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Kapitel 3: Schlafende Riesen

Part 1

Der Wecker klingelt nur wenige Millisekunden. Sofort habe ich ihn ausgeschaltet. Auf die Uhr zu schauen, brauche ich nicht. Es ist 04:20 Uhr. Schnell stehe ich auf, wasche mich und greife die Daunenjacke. Dann stehe ich im Innenhof. Die Steine unter meinen Füßen sind kalt. Schon fährt ein weißer Transporter vor und sammelt mich ein.

Zum Glück gab es noch kein Frühstück, denke ich, während wir über die Schotterwege des noch schlafenden Orts fahren und durchgerüttelt werden.
Befestigte Straßen gibt es in Göreme kaum. Es ist ein Dorf mit erstaunlichem Charme. Inmitten der Steinwüste Zentralanatoliens erheben sich bizarre Felsformationen vom Boden. Schon vor tausenden Jahren haben Menschen diese auf der Suche nach Schutz ausgehöhlt und ein Heim gefunden. Auch heute noch wechseln sich einfache Felshöhlen mit traditionellen Häusern ab. Die Lichterketten und orientalische Lampen der vielen Dachterrassen werfen abends einen wohligen Schein auf die Steinwände und die darunter liegenden Teppiche. Inzwischen sind sie ausgeschaltet.

Das unsanfte Bremsen des Busses lässt mich nach vorne wippen. Menschen erscheinen an der Tür.
Weitere müde, aber aufgeregte Gesichter, bemerke ich.
Langsam kämpfen wir uns durch zur Hauptstraße, während wir gelegentlich halten und Leute einsammeln.
Ich stecke die Kopfhörer ein, schalte Musik an und schließe die Augen.
Der Transporter beschleunigt und fährt hinaus in die Wüste.

Zehn Minuten später spüre ich, wie wir langsamer werden. Der Bus stoppt. Die Türen öffnen sich.
Plötzlich finde ich mich in einer dämmernden Märchenwelt wieder. Gewaltige bunte Stoffflächen bäumen sich in dem Windstrom großer Rotorblätter auf. Das tiefe Dröhnen der Motoren erfüllt die Wüste. Wie schlafende Riesen liegen hunderte sich füllende Heißluftballons vor mir.

Schlagartig trifft Hitze meine linke Seite. Erschrocken weiche ich zurück. Neben mir schießt eine Flamme empor und füllt den Ballon mit ihrem heißen Atem.
Ich lasse den Blick über die wirre Landschaft schweifen. Immer wieder flackert Feuer in der Wüste auf und bringt die Stoffwände zum Leuchten. Ein Lebenszeichen der träumenden Giganten, denke ich.
Mit jeder kräftigen Feuerzunge richten sich die Ballons weiter auf.

Bedächtig wandere ich zwischen den erwachenden Riesen umher. Vor zwei Jahren habe ich von Kappadokien und dem Ballon-Spektakel erfahren. Mit einem Heißluftballon durch die Luft zu treiben hatte zuvor keinen besonderen Reiß auf mich ausgeübt. Sofort ist mir damals aber klargeworden, dass ich diese Landschaft eines Tages selbst erleben will, dass ich diese Erfahrung eines Tages selbst machen will.

Die nächste Flamme sticht vor meinen Augen empor. Überwältigt bleibe ich stehen. Unerwartet schießen mir einige Tränen in die Augen. Ich fühle, dass in diesem Moment ein Traum in Erfüllung geht.
Zum Glück ist es noch dunkel, denke ich.

Part 2

Sanft verteilt sich die Luft unter mir, während ich mich auf der Luftmatratze zurechtrücke. Umgeben von schützenden Steinen blicke ich hinunter ins Tal. Ich sehe die Luft flimmern. Die bizarren Felsformationen strahlen die Hitze des Tages ab. Die unbeständige Bewegung lässt das warme Licht der Dörfer Kappadokiens unter mir wie schwelgende Glut erscheinen.
Als wenn die Hitze der Wüste sich nachts zurückzieht, in den Dörfern sammelt, sie zum Glühen bringt, denke ich.
Der Rest versinkt in Dunkelheit.

Mir wird kalt. Ich ziehe meine Knie an die Brust und umschlinge sie mit den Armen.
Erst vor drei Tagen bin ich in Göreme angekommen, führe ich mir ungläubig vor Augen.
Die letzten Tage waren intensiv. Zum ersten Mal fühle ich, wie flüchtig das Leben unterwegs sein kann. Leute kommen, Leute gehen. Orte kommen, Orte gehen. Eindrücke und Erfahrungen kommen, kommen und kommen.
Man muss aufpassen, dass sie auch bleiben, stelle ich fest.

Erneut schweift mein Blick zu den glühenden Dörfern unter mir, ohne wirklich anwesend zu sein.
Zwei Wochen bin ich nun unterwegs. Ein normaler Urlaub wäre jetzt vorbei. Für mich ist es gerade erst der Anfang. Ein weiteres Mal spüre ich, wie sich Überwältigung in mir ausbreitet, obgleich der Strukturlosigkeit meiner kommenden Monate.
Es ist der Ausstieg aus der Norm des Produktiv-Seins. Kein festes Zuhause. Nicht wissen, wo man schläft. Nicht wissen, wen oder ob man überhaupt jemanden um sich hat. Jeden Tag aufs Neue entscheiden, was man erleben möchte.
Das ist eine der schwierigsten Aufgaben. Besonders wenn man eine neugierige Person ist und alles erkunden will. Das habe ich ja schon festgestellt, bemerke ich.
Es ist ein Gefühl von Unsicherheit und freudiger Aufregung, das sich in mir ausgebreitet hat. Mir wird klar, dass ich dieses Gefühl gesucht habe. Es ging auch immer darum aus dem Gewohnten auszubrechen. Das Leben passiert außerhalb der Komfortzone.
Ich spüre, dass ich endlich auf dem richtigen Weg bin. Das erste Mal während der Reise habe ich das Gefühl, dazu gerüstet zu sein, meine Grenzen anzufechten.
Wenn auch nicht verschwunden, so freue ich mich fast schon über die Besorgnis.

Zufrieden lege ich den Kopf in den Nacken und blicke nach oben. Die Umrisse der Milchstraße zeichnen sich weich am Himmel ab. Müdigkeit macht sich in mir breit. Ich lege mich hin und mache es mir bequem. Dann schlafe ich unter den Sternen ein.

Part 3

Das tiefe Dröhnen der Motoren weckt mich. Ich öffne die Augen. Einmal mehr finde ich mich in einer märchenhaften Welt wieder. Die heimlichen Bewohner der Wüste sind herausgekommen und bereiten sich auf ihre tägliche Reise vor.
Ich befreie mich aus dem Schlafsack und klettere auf den nächstbesten Felsen neben mir. Schon heben die ersten Ballons ab und schweben über die Täler hinweg.

Es wirkt zeitlos, wie die Giganten durch die Luft tauchen. Der Himmel, bevölkert von riesigen, sich so gemächlich bewegenden Heißluftballons, wird sehr prägnant als Lebensraum deutlich und fügt eine unerwartete Tiefe zur Dreidimensionalität meiner gewohnten Realität hinzu. Immer wieder flackern die bunten Stofffetzen auf, wie schwebende Laternen, und hauchen dem Standbild Leben ein. Die langsame Bewegung wirkt so entschleunigt, die Zeit verliert an Bedeutung.
Nach einer gefühlten Unendlichkeit fällt mir auf, dass der Zauber schwächer wird. Die Ballons sinken nach unten. Einer nach dem anderen setzt auf dem Boden der Wüstentäler auf. Während die heiße Luft langsam aus den Ballons weicht und diese ihre Form verlieren, bleibt noch ein Teil des Stoffes in der Luft schweben.
Wie an einem unsichtbaren Faden gehalten, kommt es mir vor.
Dann schwindet auch der letzte Rest Magie und die Giganten der Wüste sind verschwunden – bis der Zauber sie morgen wieder zum Leben erweckt.

Manchmal ist es gar nicht schlecht einen Plan, einen Traum zu haben, denke ich.
Bisher reise ich sehr spontan und zu Zeiten chaotisch. Eigentlich finde ich das gut. So bin ich offen für jegliche Erfahrung und erlebe Unerwartetes. Aber das Gefühl, dass ein Traum in Erfüllung geht, ist auch nicht schlecht.
Wie mit so vielen Dingen braucht es eine Balance.

Glücklich das Spektakel ein weiteres Mal erlebt zu haben, packe ich meine Sachen zusammen. Der gestrige Anflug von Unsicherheit ist wieder verschwunden. Im Gegenteil: Ich freue mich darauf unterwegs zu sein und das nächste Abenteuer zu erleben.
Mit festen Schritten gehe ich zurück zur Straße. Vor mir liegt ein vierstündiger Fußmarsch in der Mittagshitze Zentralanatoliens.
Ein Lachen bricht aus mir heraus. Ich strecke die Hand aus und hoffe, dass mich ein freundlicher Autofahrer zur nächsten Stadt mitnimmt.

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Chronologie: 12.09.2022 – 16.09.2022
veröffentlicht am 10.11.2022