Part 1
Vier mal zwei Euro. Verdrossen schaue ich auf die Verzehrgutscheine in meiner Hand.
Ende März dieses Jahres von einem freundlichen Mitarbeiter ausgestellt, haben diese Gutscheine bisher nichts als Frust und Fassungslosigkeit über die Kundenfeindlichkeit der Deutschen Bahn in mir ausgelöst. Die Sitzplatzreservierung funktionierte damals nicht. Der Wagon, in dem meine Eltern und ich sitzen sollten, war gesperrt. Als Entschädigung sollten wir uns doch einen Kaffee auf der Rückfahrt gönnen. Als wir andachten dies in die Tat umzusetzen, stellten wir fest, dass die Gutscheine nur an teilnehmenden Bahnhöfen eingelöst werden können.
Wieder in Hamburg angekommen hielt ich bei dem größten mir bekannten DB Service Store, um die Gutscheine doch noch einzulösen. Meine vorsichtige Frage, ob man die Gutscheine hier einlösen könne, wurde mit einer Abfuhr bestraft. Immerhin hat der hilfsbereite Kassierer mir noch die Q&A Seite der Deutschen Bahn vorgelesen: “Die Geschäfte, die die Verzehrgutscheine annehmen sind mit dem Hinweis: ‘Hier können Sie Ihren Verzehrgutschein einlösen’ an der Tür gekennzeichnet.”
Was für ein geniales System sich ein pfiffiger Marketing-Guru hier doch ausgedacht hat.
Für diesen Entschädigungsgutschein müsste ich glatt wieder entschädigt werden, denke ich und rücke meinen Rucksack zurecht. Ich bin immer noch erstaunt darüber, wie leicht er ist.
Im Rucksack befindet sich Unterwäsche für knapp eine Woche, vier Shirts, zwei Hosen, ein Satz Funktionsunterwäsche, ein Fleece-Pulli und ein Hemd.
Meine Kleiderauswahl hat sich drastisch reduziert, stelle ich mit einer Mischung aus Stolz und Besorgnis fest.
Dazu eine Daunenjacke, eine Luftmatratze und ein Draußenschlafsack.
Das muss reichen, bekräftige ich mich.
In den letzten Wochen habe ich meinen halben Hausstand verkauft, den Rest bei meinen Eltern eingelagert, alle Projekte auf der Arbeit abgeschlossen oder übergeben, die letzten Reisevorbereitungen getroffen und die Wohnung aufgelöst. Ich bin fertig. In jeglicher Hinsicht. Mein ganzes Hab und Gut besteht jetzt aus diesem Rucksack.
Und den Verzehrgutscheinen in meiner Hand.
Aus Prinzip will ich diese blöden Dinger noch einlösen. Warum die mich so reißen, weiß ich auch nicht. Sonst bin ich doch auch nicht so nachtragend und kleinkariert, überlege ich.
Der zurückliegende Stress und die unterdrückte Aufregung tragen mit Sicherheit ihren Teil zu einer gereizten Grundstimmung bei.
Zwei Jahre ist es jetzt her, dass ich unter der kalten Dusche stand, mein Leben hinterfragt habe und ausbrechen wollte. Verschiedenste Ereignisse, unter anderem die Hartnäckigkeit, mit der sich eine globale Pandemie halten kann, haben meinen Plan immer wieder verschoben. Allzu traurig bin ich nicht darüber. Es ist viel Schönes passiert. Gelöst haben sich meine Probleme von damals zwar noch nicht, aber relativiert haben sie sich. Trotzdem: losgelassen hat mich die Idee, das Gefühl nicht mehr. Das Ausbrechen, die Ungewissheit, das große Abenteuer. Ich brauche das. Damlas vielleicht mehr, genießen kann ich es jetzt besser, glaube ich.
Grob werde ich von der Seite angerempelt.
Egal zu welcher Zeit man am Hamburger Hauptbahnhof ankommt, die Wandelhalle ist immer gut besucht, stelle ich fest.
Langsam bahne ich mich durch die Menschenmenge hindurch auf dem Weg zum Gleis 14, wo in einigen Minuten mein Zug abfahren soll. Außerdem befindet sich hier noch ein Kiosk, bei dem ich ein letztes Mal mein Glück versuchen will. Bereits von weitem kann ich den Schriftzug ausmachen.
Nach dem Chaos der letzten Woche, habe ich diesen Kaffee auch wirklich verdient, rede ich mir ein. Na ja, zumindest nötig. Dankbar, dass die Wohnungsübergabe geklappt hat, denke ich zurück. Ich bin in der Lage komplexe Software zu entwickeln, aber ich kriege es nicht auf die Reihe eine Wand schlierenfrei zu streichen – unglaublich.
Ich betrete den Kiosk.
„Einen Kaffee, bitte“, sage ich und strecke dem Kassierer die Gutscheine selbstbewusst hin.
„Oh, einen Moment. Da muss ich nachfragen, ob wir die annehmen“, schallt es mir entgegen.
Das wird doch schon wieder nichts, denke ich halb verzweifelt, halb belustigt und warte.
„Ja, ist in Ordnung. Welche Größe?“
Ungläubig begutachte ich das, wie der Becher unmissverständlich klarstellt, fair gehandelte Heißgetränk in meiner Hand. Vielleicht bin ich sonst nicht so nachtragend und kleinkariert, aber in dem Moment, in dem ich die Gutscheine gegen einen großen Kaffee tausche, spüre ich vor allem eins: Genugtuung.
Genussvoll nehme ich einen großen Schluck Kaffee und verbrenne mir höllisch den Mund.
Part 2
„Passport!“, werde ich unsanft geweckt. Mit kleinen Augen schaue ich mich um.
„Passport!“ schallt es erneut durch den Gang.
„Wir sind an der bulgarischen Grenze“, kommt es von unten.
Kurz blickt Amir aus seinem Bett zu mir hoch. Schon erscheinen die Grenzbeamten an der Abteiltür. Müde reiche ich meinen Reisepass aus dem Etagenbett nach unten. Ein kurzer Blick, das Klacken des Stempels und wir sind wieder allein.
Ich schaue auf die Uhr: 5:30 Uhr. Seit über 30 Stunden sitzen wir zusammen im Zug. Langsam richte ich mich im unbequemen, zu klein geratenen Bett auf. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Hassan und Amir scheint es ähnlich zu gehen. Gemeinsam gehen wir zum Speisewagen und holen uns einen Kaffee.
„Gegen Mittag kommen wir endlich in der Türkei an“, meint Hassan. „Ich wusste, dass die Ratten uns warten lassen und wir zu spät ankommen.“
„Jemand einen Knoppers?“
Vorsichtig nehme ich einen Schluck Kaffee, bedacht darauf mich nicht zu verbrennen.
„In Istanbul musst du aufpassen. Auf den Straßen wird jeder versuchen, dir das Geld aus der Tasche zu ziehen“, meint Amir. „Nimm niemals etwas umsonst an. Auch nicht, wenn’s dir angeboten wird. Frage immer nach dem Preis.“
Sofort stimmt Hassan zu: „Die reißen dir den Arsch auf… weit wie ´ne Sattelitenschüssel und dann stecken die dir…“
„Danke, ich kann’s mir vorstellen“, sage ich schnell und greife zum Knoppers.
„Letztes Jahr hat mir einer ´nen Tee verkauft. Ich wollte den nicht, aber er hat einfach ein Gespräch angefangen. Wir haben uns unterhalten und plötzlich stand ich mit ´nem Tee in der Hand da“, fährt Amir fort. „Du merkst gar nicht wie schnell du etwas annimmst, wenn du im Gespräch bist.“
„Hier, nimm noch ´ne Schokobanane“, sagt Hassan und hält mir die Schachtel vor die Nase.
„Und die sind wirklich gut darin, dich einzuwickeln und abzulenken“, meint Amir.
„Die Ratten“, pflichtet Hassan bei. „Die würden auch ‘nem Tausendfüßler das Jonglieren beibringen, wenn sie damit an dein Geld kommen.“
Prustend bringe ich ein Lachen hervor, während ich mich am Kaffee verschlucke.
Mit erstaunlicher Kreativität findet Hassan jedes Mal einen neuen Weg sich Ausdruck zu verschaffen, denke ich.
„Und dann, wenn du kurz nicht aufpasst, dann schieben dir den…“
Meistens mit einem nicht so kreativen, vulgären Ende, füge ich gedanklich an.
„Da musst du wirklich aufpassen“, unterbricht Amir ihn.
Langsam schlucke ich den letzten Bissen der Schokobanane hinunter. Mir dämmert, dass ich nach Amirs und Hassans Hinweisen gerade in die Falle getappt bin.
„Aber eigentlich sind die Türken sehr nett und gastfreundlich“, sagt Hassan.
„Stimmt, im Prinzip sind wir ein gutes Volk“, meint Amir und greift ebenfalls zu den Schokobanen.
„Rums!“
Ein heftiger Ruck geht durch den Zug. Erschrocken ziehe ich die Hand zurück. Während der neue Zugwagen angedockt hat, ist der heiße Kaffee übergeschwappt. Verärgert wische ich meine Hand an der Hose ab. Seit wann ist Kaffee denn nur auf dem Kriegsfuß mit mir, frage ich mich.
Dann fällt mir ein, was der neue Zugwagen bedeutet. Das war der letzte Wechsel. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Bald bin ich in Istanbul.
Chronologie: 03.09.2022 – 06.09.2022
veröffentlicht am 27.09.2022