Aufgebracht stürme ich durch die Wohnungstür, werfe die Klamotten auf den Sessel und springe unter die eiskalte Dusche. Sonst immer kontrolliert, weiß ich jetzt nicht wohin mit meiner Energie. Oder woher sie plötzlich kommt. Den Herzschlag bis in den Hals spürend, schmettere ich den Kopf im kalten Wasserstrahl herum. Im Hintergrund schreit Kurt Cobain aus den Boxen:
With the lights out, it’s less dangerous
Here we are now, entertain us
I feel stupid and contagious
Here we are now, entertain us
A mulatto, an albino, a mosquito, my libido
Yeah, hey
Sicherlich keine gute Umgebung, um zu Sinnen zu kommen, denke ich.
Langsam streiche ich mir das Wasser aus dem Gesicht und steige aus der Dusche. Gleichzeitig klar im Kopf, wohlwissend was folgt, und doch unkontrolliert am Zucken warte ich. Dann klingelt es.
Liebeskummer ist beschissen. Alleine stehe ich im Zimmer. Vorsichtig scheint die Sonne durch das offene Fenster und wärmt die rustikalen Dielen unter meinen Füßen. Staub flimmert im Lichtschein. Mir geht’s wie das Hamburger Wetter, denke ich: schlecht, aber seit heute sieht man das erste Stück blauen Himmel.
Langsam gehe ich in die Mitte des Raums und stütze mich auf das warme Holz des Raumteilers ab. Der Blick schweift aus dem Fenster. Das hat mir gerade noch gefehlt. Als gäbe es nicht genug Herausforderungen.
Seit dem Abschluss des maledeiten BWL-Studiums hat sich vieles gebessert, denke ich.
Zum Glück habe ich sofort den Job gewechselt. Programmieren macht viel Spaß. Es hat etwas vom Spielen mit Lego. Man setzt viele kleine Bausteine zusammen und kreiert so etwas Größeres. Etwas Sinnvolles.
Na ja, zumindest sinnvoller als in einer weiteren Marketing-Vorlesung zu lernen, wie ich Menschen das nächste Produkt andrehe, das sie nicht brauchen, damit sie Leute beeindrucken, die sie nicht mögen.
Genug Netflix gucke ich offensichtlich auch, um Filmzitate auf richtige Art falsch widerzugeben, bemerke ich.
Es ist gut, dass das BWL-Studium vorbei ist.
Während ich mich wieder ins Zimmer wende, bleibt mein Blick am Spiegel hängen. Nachdenklich betrachten mich die dunkelgrünen Augen: Groß, dunkelhaarig, sportlich. Spätestens seitdem ich einen leichten Bart trage, sind auch die letzten jugendlichen Züge aus dem Gesicht verschwunden. Sie haben Platz gemacht für das Äußere eines jungen Mannes. Erwachsen, aber ohne viel Erfahrung. Mit meinen 23 Jahren liegt das Leben vor mir. Ein aufregendes, aber auch mulmiges Gefühl.
Was will ich damit anfangen?
Es gibt so viele spannende Dinge auf der Welt. Jede Entscheidung ist ein Geständnis: Wer bin ich?
Was will ich?
Jede Entscheidung ist auch eine Absage an eine Realität, die Möglichkeit bleiben soll. Es ist eine Absage an so vielen Dingen.
Wahrscheinlich habe ich deswegen Angst davor älter zu werden. Es ist ein verfluchter Segen. Während der ganzen Menschheitsgeschichte konnten nicht viele ein so freies und selbstbestimmtes Leben führen. Aber anstatt diese Chance bestmöglich zu nutzen, bleibe ich zögerliche stehen und kämpfe um jeden Zentimeter.
Als Kind bin ich mutig durch alte Ruinen geschritten, habe mächtige Türen zu Schatzkammern geöffnet und die archäologische Welt in Aufruhr versetzt. Ich habe mit Taschenlampe bewaffnet tiefe Höhlen erkundet und bin per Rakete ins All geschossen. All das, während ich nur durch den Garten tobte.
Was ist aus den großen Träumen geworden?
Möchte ich ein außergewöhnliches Leben oder reicht ein glückliches?
Das Summen einer Biene reißt mich aus meinen Gedanken. Wuselig fliegt Sie auf der Suche nach der nächsten Blume durchs Zimmer. Schnell verschwindet sie wieder durchs offene Fenster.
“Hier wirst du nicht fündig”, stelle ich fest.
Ungefragt schleichen sich die Ereignisse der letzten Tage wieder in meinen Kopf. Jetzt habe ich also auch noch sie verloren. Wir haben so viel gemeinsam erlebt. Ich dachte sie würde mich durchs Leben begleiten.
Schon vor dem letzten Gespräch wusste ich, wie es ausgeht. Wie ein in die Enge getriebenes Tier wartete ich auf das Klingeln. Einen Fluchtplan gab es nicht. Dafür war es zu spät.
Im Angesicht des sicheren Unterganges bin ich für meine Gefühle eingestanden. Ich beschließe, dass ich dank meiner XY-Chromosomen wohl nicht zu den klassischen Stereotypen emanzipatorischer Vorbilder gehöre, es jetzt aber sein könnte. Auf emotionaler Ebene hatte ich immer Schwierigkeiten mich verletzlich zu zeigen. Diesen Vorwurf muss ich mir nicht mehr machen. Fühlt sich gut an.
Trotzdem täuscht es nicht darüber hinweg, wie traurig ich bin. Ich will sie nicht aus meinem Leben streichen.
Das Aufwallen der nächsten Gefühlswelle reißt mich zurück in die Gegenwart.
Der Raum, in dem ich mich so wohl gefühlt habe, erscheint plötzlich erdrückend klein. Drauf und dran meine Klamotten wegzuschmeißen und ein weiteres Mal innerhalb weniger Tage Curt Kobain anstatt meiner unter der eiskalten Dusche schreien zu lassen, trifft mich eine Erkenntnis: Ich weiß nicht, was ich will. Ich weiß nicht, wer ich bin. Aber ich weiß, was ich tun muss: Ich muss raus!
veröffentlicht am 05.09.2022