Home » Kapitel 8: Leuchtfliegen

Kapitel 8: Leuchtfliegen

Knisternd wirbeln die Funken nach oben. Wärmend halten Bikash und ich unsere Hände vor das Feuer. Die Sonne ist bereits hinter den dschungelbewachsenen Hängen verschwunden, lässt uns im Dämmerlicht zurück.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er mit einem Zweig rumspielt und die Blüten pflückt.
Wir haben uns zufällig auf meinem Weg zum Mardi Himal Trek getroffen. Direkt hat er mir angeboten, bei ihm im Garten zu zelten. Viel gesprochen haben wir noch nicht. Sein Englisch ist nur brüchig. Außerdem ist er schüchtern, aber wir verstehen uns trotzdem. Gemeinsam sitzen wir am Feuer und genießen die Wärme in der aufziehenden Nacht.
Endlich bin ich wieder unterwegs, denke ich zufrieden. Es wurde Zeit aufzubrechen und einen weiteren Versuch zu wagen. Nach dem Trekking-Fiasko am Thorong La habe ich mich verloren gefühlt. Auf knapp 5000 Metern musste ich absteigen. Die Höhenkrankheit hat mir sehr zu schaffen gemacht. Ich wusste nicht, was ich als nächstes machen sollte, erinnere ich mich. Zumindest nicht, bis ich im Hostel ein Gespräch überhört und so von einem Festival erfahren habe.
Wieder knistert das Feuer. Verträumt gucke ich in die Glut und lasse meine Gedanken an die vergangenen Tage abschweifen.

Herausfordernd blitzt es mich aus ihren braunen Augen an.
„Das hat Spaß gemacht“, sagt Liz und greift zu meiner Halskette.
Immer noch außer Atem vom Tanzen gucke ich sie an. Den ganzen Tag über schon konnte ich den Blick nicht von ihr lassen.
Sie hat diese Art von Begeisterungsfähigkeit an sich, die ich wahnsinnig attraktiv finde, die ich an Menschen generell mag, bemerke ich. Es ist diese Aufregung in der Stimme, dieses Glitzern in den Augen, wenn sie die Welt betrachtet. Trotzdem bin ich bisher nicht sehr in Flirtstimmung gewesen. Ich weiß auch nicht warum.
 „Was machen wir jetzt?“, fragt Liz während sie die Kette spielerisch durch ihre Finger gleiten lässt.
Ohne zu reagieren, lasse ich den Moment verstreichen.
Mist, das kann doch nicht wahr sein, ärgere ich mich. Warum bin ich denn heute so unsicher?
So nicht, beschließe ich kurzerhand.
„Lass uns zum Zelt gehen und noch ein Bier holen“, sage ich schnell, schlängle mich an ihr vorbei und schlage den Weg zum Lager ein. Ich höre, wie Liz mir folgt.
Nach kurzer Zeit erscheint der provisorisch befestigte Regenschutz zwischen den Sträuchern. Gemeinsam setzen wir uns aufs Gras. Liz fängt an zu sprechen, aber ich bin mit meinen Gedanken woanders.
Entschlossen gucke ich sie an. Die Sommersprossen, die ihre Nase umspielen verleihen ihr ein freches Aussehen. Ich mag das. Es sieht süß aus, finde ich.
Ein leichtes Lächeln zuckt um ihre Mundwickel.
Ohne zu wissen, was ich als nächstes sagen sollte beuge ich mich vor.
„Ich bin mir hier gerade nicht sicher“, bricht es eloquent aus mir heraus.
Dann küsse ich sie.

Gemeinsam liegen wir auf den getrockneten Halmen der Reisterrasse und betrachten den nächtlichen Himmel. Der Vollmond scheint hell auf uns herab, umspielt Liz Körper, lässt die Umrisse ihrer Brüste erahnen. Wieder kann ich den Blick nicht von ihr lassen.
Zum Glück haben wir uns aus dem Staub gemacht, freue ich mich. Nach einem kurzen Tanzversuch zu harter Elektromusik haben wir beschlossen zum Wasserfall zu gehen. Jetzt durchdringt nur noch das leise Plätschern des Wassers die Nacht. Ich greife ihre Hand.
„An so einem schönen Mond ist nur schade, dass man wenig Sterne sieht. Es ist trotzdem wunderschön“, stellt Liz fest.
„Jedes Mal, wenn ich in den Sternenhimmel gucke, fühle ich mich unendlich klein“, antworte ich. „Lange Zeit habe ich mich dabei gefragt, was wohl der Sinn des Lebens ist. Wir sind so unglaublich klein und das Universum so unglaublich groß.“
„Ja“
„Aber weißt du, vielleicht ist das die falsche Frage. Vielleicht ist erst Leben das, was dem Universum einen Sinn gibt“.
Verzaubert schaut Liz mich an. Zumindest glaube ich das. Vielleicht hoffe ich es auch nur.
„Das ist ein schöner Gedanke“, sagt sie schließlich und beugt sich über mich. Verheißungsvoll wandert ihr Duft an meinem Hals entlang. Ein wohliger Schauer fährt durch meinen Körper.
„Weißt du was ich an uns und unserer Festivaltruppe mag?“, fragt Liz mich einen kurzen Moment, nachdem wir uns wieder voneinander gelöst haben.
„Wir alle reisen allein. Wir können die Zeit mit uns selbst genießen. Trotzdem haben wir beschlossen diese Tage gemeinsam zu verbringen. Nicht weil wir müssen. Einfach weil wir unsere Gesellschaft schätzen. Das ist viel mehr Wert, als gemeinsam zu sein, weil man nicht allein sein kann“.
Jetzt schaue ich Liz verzaubert an.
„Ja, du hast recht“, sage ich.
Ich schaue ihr in die Augen. Die braunen Locken umrahmen ihr sonnengebräuntes Gesicht.
Wieder spüre ich dieses Verlangen. Wie eine starke Strömung zieht es mich unweigerlich zu ihr hin. Es ist keine blinde Leidenschaft, die mich antreibt, mich ihre Haut auf meiner spüren lassen möchte. Dafür fühle ich mich zu müde. Es ist ehrliche Zuneigung, die meinen Körper durchdringt. Das Auskosten eines Momentes aufrichtigen Verbunden Seins. Diesmal beuge ich mich über sie, gebe mich der Strömung hin, lasse mich zu ihr treiben. Ihre weichen Lippen umschließen meine. Sie hinterlassen ein tiefes Summen.

Mit lautem Knacken und Knistern entfährt Gas aus dem brennenden Holz. Aus der Träumerei erwachend kommen meine Gedanken zurück zum Lagerfeuer.
Langsam lasse ich meinen Blick über die schattenhafte Welt schweifen. Tagsüber versprühen wildwachsende Orchideen, bunter Rhododendron und Geranien eine lebendige Geschäftigkeit an dem Ort, welcher für heute mein Zeltplatz ist. Die Blumen, die die Reisterrasse säumen bieten hunderten Vögeln, Schmetterlingen und kleine Insekten ein Zuhause. Mit dem Dämmerlicht kehrt Ruhe ein.
Den Zweig hat Bikash inzwischen zur Seite gelegt. Jetzt hantiert er nur noch mit den Blüten.
„Was machst du da eigent…“, setze ich an, doch ein schwaches Leuchten am Rande meines Sichtfelds erregt meine Aufmerksamkeit. Verwundert wende ich mich der unregelmäßig pulsierenden Lichtquelle zu.
„Was zum Teufel…“
Plötzlich ändert der leuchtende Schein seine Richtung und steuert direkt auf mich zu. Mit einem leisen klicken lässt es sich auf meiner Jacke nieder.
„Ein Glühwürmchen!“, entfährt es mir.
Erstaunt blicke ich mich um.
„Da, noch eins!“, rufe ich.
„Und noch eins!“
Ein ganzer Schwarm pulsierenden Glühens ist um uns herum erschienen, umspielt die Szenerie. Fasziniert gucke ich Bikash an, welcher ein Lachen nicht zurückhalten kann.
„Das ist das erste Mal, das ich Glühwürmchen sehe“, erkläre ich verzaubert.
„Weißt du, dieser Ort ist nach den Glühwürmchen benannt“, sagt Bikash.
„Wie heißt der Ort?“
„Junkeri“
„Junkeri“, murmle ich ihm nach.
Verträumt halte ich nach dem nächsten Aufglühen Ausschau.
„Hey Bruder, möchtest du?“, fragt Bikash schließlich in seiner schüchternen Art und hält mir eine glühende Zigarette hin.
„Ist frisch aus dem Garten geerntet“, fügt er an.
„Was ist das?“
„Marihuana“, antwortet Bikash.
„Hier aus dem Garten?“, frage ich erstaunt. Mir wird klar, was er die ganze Zeit mit dem Zweig angestellt hat.
„Verdammt ja! Frisch aus dem Garten… Das möchte ich ausprobieren“, antworte ich und nehme den Joint entgegen.
Rauch füllt meine Lunge.
„Hey Bruder, what happens after a date in Germany?“, fragt Bikash mich unerwartet in seinem brüchigen Englisch.
Amüsiert gucke ich ihn an. Eine gewisse Irritation kann ich in meinem Gesicht nicht verbergen.
„Du meinst, was wir nach einem Date machen?“, vergewissere ich mich.
„Ja“.
Erneut nehme ich einen tiefen Zug. Ich merke, wie die Pflanze langsam durch meine Sinne wabert.
Na ja, dann möchte er wohl etwas über die deutsche Dating-Kultur lernen, denke ich belustig. Eigentlich ganz süß, wie er so schüchtern danach fragt. Wie mit einem Kind, bei dem man sich über das Verständnis von Worten nicht sicher ist, fange ich an zu erklären.
„Meistens läuft das Kennenlernen in drei Phasen ab. Das ungeschrieben Gesetzt der drei Dates“.
„Allgemeingültig ist das natürlich nicht“, füge ich an, denke an Liz und kann mir das Grinsen nicht verkneifen.
„Beim ersten Date geht man vielleicht spazieren oder einen Kaffee trinken und guckt, ob man grundsätzlich zusammenpasst. Dann beim zweiten Date… Ach so, ja, und häufig küsst man sich beim ersten Date, wenn es gut läuft.“, werfe ich noch schnell ein und gucke zu Bikash.
Diesmal kann er seine Irritation und Belustigung kaum verbergen.
Das muss in Nepal ganz schön anders laufen, wenn er so verwundert ist, denke ich und nehme einen weiteren Zug.
„Ja, so ist das bei uns“, lache ich mit ihm.
Langsam kommt er wieder zur Ruhe.
„No, no, I mean what happens after date“, sagt er schließlich.
In meinem merklich langsameren Kopf fängt es an zu arbeiten.
What happens after date… Was meint er nur, frage ich mich.
 What happens after date… What happens after dead…
„Oh, du meinst, ‚what happens after death‘“, rufe ich aus.
„Ja, Ja“, bestätigt Bikash.
Beide gucken wir uns an und fangen wieder an zu lachen.
Dann schießt mir ein Gedanke in den Kopf. Eigentlich hätte ich jetzt auch gerne etwas über die nepalesische Dating-Kultur erfahren. Mucksch verabschiede ich mich davon.

Kurze Zeit später sitze ich allein im Zelt und gucke hinaus.
Das Gras hat ganze Arbeit geleistet, merke ich. Im Schneidersitz sitzend, eine Packung Kekse in der Hand genieße ich den Moment. Schon haben meine Finger den nächsten Keks befreit. Mit diebischer Freude bucksiere ich ihn in meinen Mund.
Was für ein epischer Moment, denke ich und freue mich über meine eigene Gesellschaft.
Liz hat Recht. Wir können sehr gut allein mit uns sein. Einmal mehr erlaube ich mir an sie zu denken.
Es ist schon verrückt. Eigentlich kenne ich sie kaum, stelle ich fest. Nur 48 Stunden haben wir miteinander verbracht, aber ich mag sie verdammt gerne.
Aus irgendeinem Grund verfalle ich der hoffnungslosen Romantik kurzzeitiger Zweisamkeit immer wieder. Ich kann mich deren Magie nicht entziehen. Vielleicht mache ich mir das Leben damit selbst manchmal schwer, denke ich.
Und wer weiß, vielleicht hätte sich mein Gefühl zu Liz noch geändert, schließlich habe ich nur einen kleinen Teil von ihr kennengerlernt, überlege ich. Berauscht von Musik, Tanz, Alkohol und der magischen Atmosphäre Nepals kann vieles passieren.
Dann fällt mir ein Satz von ihr ein.
„In den Bergen fühle ich mich lebendig“, sagte Liz, während sie in meinen Armen lag. Mir gefällt das. Ich habe nie darüber nachgedacht, aber es stimmt. In der Natur fühle auch ich mich lebendig.
Ich denke wieder an den Satz.
„In den Bergen fühle ich mich lebendig… Und beim Tanzen auch“.
In einer anderen Welt hätte ich sie gerne besser kennengelernt.

Dann schiebe ich die Gedanken beiseite, dankbar die schönen Momente erlebt zu haben. Mit vom Gras vernebelten Sinnen blicke ich mich um. Die Landschaft ist noch immer bezaubernd. Schon schnappe ich mir den nächsten Keks aus der Packung. Es ist der letzte. Was für ein genialer Moment, freue ich mich einmal mehr.
Plötzlich leuchtet es vor meinen Augen auf.
„Da ist wieder eins!“, entfährt es mir aufgeregt.
„Wie heißt das noch gleich? … Leuchtfliege! … ach ne, Glühwürmchen!“

weitere Impressionen von Jaljale & Mardi Himal

Chronologie: 07.11.2022 – 19.11.2022
veröffentlicht am 20.01.2023