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Kapitel 2: Ironie oder Gelassenheit

Part 1

Laute Rufe stürmen von allen Seiten auf mich ein. Immer wieder schieben sich Männer mit vollen Tabletts türkischen Çay-Tees durch die Menge, um ihn bei verschiedenen Läden zu verteilen.
Es ist ein Wunder, dass sie nichts verschütten, denke ich beeindruckt.
Gemächlich gehe ich die Straße entlang. Rechts von mir hängen die prächtigsten Lampen von der Decke. Filigran wurden Scherben zu Mustern zusammengesetzt. Sie werfen einen bunten Schein auf die umliegenden Stände des Basars.

orientalische Glaslampen

Links von mir verbreiten kunstvoll verarbeitete Teppiche ihren Charme.
Plötzlich schallt eine ungewohnte Melodie durch die Straßen.
Ich blicke mich um.
Sie kommt von den Minaretten der unzähligen Moscheen der Stadt.
Es ist Gebetszeit, stelle ich fest.
Dem Trubel tut es keinen Abbruch.
Intensive, exotische Düfte treiben durch die Luft und bilden zusammen mit der Gebetsmelodie ein buntes Bouquet Fremdartigkeit in mir.
Ich bleibe stehen.
Mit akribischer Genauigkeit häuft ein Ladenbesitzer die ziegelrote Gewürzmischung zusammen. Zufrieden betrachtet er sein Werk. Es sieht gut aus.

Gewürzladen auf dem Bazar Istanbuls

Hier würde ich gerne einkaufen, denke ich.
Leider weiß ich gerade nichts mit einem halben Kilo Paprika rosenscharf anzufangen.
„Möchtest du ein Stück Lokum probieren?“, kommt es von der Seite.
Überrascht drehe ich mich um.
„Klar, gerne!“
Ich greife zu einem Stück mit Mandeln und Pistazien. Neugierig beiße ich ein Stück der weichen, klebrigen Masse ab. Es schmeckt hervorragend.
Erwartungsvoll guckt mich der Verkäufer an.
„Das ist gut. Ich nehme von diesen Sorten jeweils ein Stück“, sage ich und zeige auf fünf verschiedenfarbige Varianten.
„Nur ein Stück?“, fragt der Verkäufer. Er kann eine leichte Enttäuschung in der Stimme nicht verbergen.
„Leider kann ich gerade auch nichts mit einem halben Kilo Zucker anfangen“.
Verwirrt schaut er mich an.
„Ja, jeweils nur ein Stück“.

Zufrieden stecke ich das nächste Stück der türkischen Süßigkeit in den Mund. Es wird Zeit sich auf meine Mission zu konzentrieren.
Ein Besuch des Basars ist erst vollständig, wenn ich nach lautstarker Verhandlung irgendetwas für einen fairen Preis gekauft habe, finde ich.
Und ich brauche tatsächlich etwas: Eine kleine türkische Flagge, die ich an meinen Rucksack nähen kann.
Also auf ins Getümmel, bereite ich mich gedanklich vor.

Zwei Stunden später klingeln mir die Ohren. Allmählich reicht mir der Trubel, denke ich.
Ich habe keine Lust mehr diversen Ladenbesitzern zu erklären, dass ich außer der Flagge nichts kaufen möchte. Leider hat aber kein einziger Laden das, was ich suche.
Enttäuscht breche ich meine Mission ab.
Da fällt mir ein kleiner Stand am Ausgang des Basars ins Auge.
Hier versuche ich es noch mal, denke ich.
„Merhaba, habt ihr eine türkische Flagge zum Aufnähen?“, frage ich den Besitzer erwartungsvoll.
Sofort wühlt er auf dem Tisch herum und holt eine Flagge zum Vorschein.
„Genau so etwas habe ich gesucht!“, rufe ich freudig.
„Wie viel möchtest du dafür haben?“
„35 Lira“, antwortet der Besitzer.
„Deal“, schlage ich ein und suche das Geld zusammen.

Zufrieden begebe ich mich auf den Rückweg. Ich habe nicht mehr damit gerechnet, fündig zu werden.
Abrupt bleibe ich stehen.
„Mist, jetzt habe ich gar nicht verhandelt“.

Part 2

oberer Teil der Hagia Sofia
unterer Teil der Hagia Sofia

Wie die Wasseroberfläche zwei Welten voneinander trennt, so scheinen auch die tiefhängenden Kronleuchter den Raum entzwei zuteilen. Der untere Teil erfüllt von Trubel, Wärme und Leben, der obere Teil zeitlos, in Ehrfurcht gebietender Stille.
Im Schneidersitz ruhend schließe ich die Augen und lasse den Raum auf mich wirken. Bewusst achte ich auf meinen Atem. Ich spüre die Luft durch meine Nase ein- und ausströmen, meinen Herzschlag pulsieren, erst nur meine Hände, dann meinen ganzen Körper kribbeln.
Als wenn ich durch die Oberfläche des bernsteinfarbigen Lichtes in die obere, zeitlose Welt der Hagia Sofia eintauche, dumpfen die Geräusche um mich herum ab.
Es ist ein besonderer Ort, merke ich.
Nicht der Geist Christi, Allah oder irgendein anderer Gott erfüllt ihn. Es sind die Menschen, die seit über 1500 Jahren voller Glaubens herkommen und dem Ort Bedeutung geben, die in jedem Stein, jeder Fuge, selbst in der Luft spürbar sind. Es ist ein spiritueller Ort.

Langsam öffne ich die Augen. Vor mir laufen hunderte Menschen vorbei. Groß, klein, dick, dünn, schwarz, weiß, Mann, Frau, Christ, Moslem: Alle haben auf der Jagd nach dem nächsten besten Foto das Handy gezückt. Kaum einer lässt den Raum auf sich wirken. Kaum einer taucht ein in seine zweite Welt.
Schade eigentlich, dass Smartphones nicht häufiger verboten sind, denke ich, greife in die Tasche und schieße noch schnell ein Selfie.


Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Reinhold Niebuhr

Part 3

Mit voller Konzentration balanciere ich auf der Betonabtrennung, welche die Straße in zwei Richtungen teilt. Neben mir schießt ein Auto vorbei und hinterlässt zwei verschwommene rote Linien Lichts auf meiner Netzhaut.
So ein Mist, ey. Jetzt bloß nicht runterfallen.

Ein paar Stunden zuvor

Die orientalische Atmosphäre ist der Wahnsinn, denke ich, während ich die Tür hinter mir schließe.
Mein Hostel nicht. Aber hey, war günstig.
Ziellos gehe ich die Straße entlang.
Ich bin mir noch nicht im Klaren darüber, wie ich mich eigentlich fühlen soll.
Mache ich jetzt auf unbegrenzte Zeit Urlaub? Gibt es so etwas wie eine Reiseroutine?

Keine Ahnung.
Meinen Alltag muss ich noch finden, aber auf jeden Fall war ich die Tage schon im Boulder Gym. Ein paar Routinen sind doch ganz gut, denke ich.

Istanbul ist überwältigend. Die Stadt ist wahnsinnig groß, schnelllebig und durchdrungen von Geschichte und Kultur. Es gibt so viel zu erleben.
Istanbul ist auch hektisch.
Die letzte Woche war aufregend, rekapituliere ich.
Nichtsdestotrotz breitet sich das Gefühl aus, die Stadt verlassen zu müssen und das Abenteuer so richtig zu starten. Ich will gerade kein normaler Tourist sein! Aber wohin will ich eigentlich?
Zeit für einen Planungstag, denke ich und steuere auf das nächstbeste Café zu.
Schon kommt die Bedienung.
„Einen türkischen Kaffee, bitte“.
Ich zücke ich das Handy und beginne mit der Recherche.
Ach was soll’s, jetzt bin ich schon mal hier, denke ich.

… und ein bisschen Baklava“, rufe ich der Bedienung mit einem Lächeln auf den Lippen hinterher.

Zwei Stunden später schwirrt mir der Kopf.
Die mit Thermalwasser gefüllten Kalkterrassen Pamukkales, Nemrut Dagi, Troja, Göbekli Tepe, Kappadokien, der Lykische Weg, die Schmetterlingsbucht, die kulinarische Hauptstadt Gaziantep, der Flair von 1001 Nacht in Mardin, das, mit der Felswand verwachsene Sumela Kloster, alte griechische und byzantinische Ruinen, Nordmesopotamien, die Geburtsstätte des modernen Menschen, der weniger bereiste, aber für die Gastfreundschaft berühmte Südosten, der heilige Berg Ararat und vieles mehr: Die Türkei hat so viel zu bieten. Das habe ich nicht erwartet.
„Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nichts weiß“, kommt mir der Ausdruck von Aristoteles in den Sinn.
Ich wandle ihn gedanklich ab: „Je mehr ich reise, desto mehr weiß ich, wie wenig ich gesehen habe“.
Und das wird mir nach nur einer Woche unterwegs bewusst.
Wie soll das denn weitergehen, frage ich mich ratlos.
Ein altbekanntes Gefühl breitet sich in mir aus. Ich bin so frei wie ich nur sein kann. Jetzt muss ich entscheiden, was ich mit dieser Freiheit anfangen will: Gefangen im Paradies der Möglichkeiten.
Was will ich wirklich sehen?
Welche Erfahrungen möchte ich machen?
Wie will ich reisen?
Wie ironisch, stelle ich fest. Unter anderem das Gefühl Gefangener der Freiheit zu sein hat mich dazu veranlasst Ausbrechen zu wollen, auf Reisen gehen zu wollen. Jetzt bin ich unterwegs und nach nicht mal einer Woche stehe ich vor dem gleichen Problem.
„Das kann nicht wahr sein“, murmle ich belustigt und verzweifelt zugleich vor mir hin.
„Wie bitte?“, fragt die Kellnerin.
„Hm? Ah, Entschuldigung, ich habe mit mir selbst gesprochen“, sage ich schnell.
„Vielleicht nehme ich noch ein Stück Baklava“, füge ich an.
Ich spüre, wie sich in mir ein Anflug von Apathie ausbreitet. Nach zwei tiefen Atemzügen besinne ich mich auf das einzige Gegenmittel, dass ich bisher finden konnte: Akzeptanz.
Mir kommt das Gelassenheitsgebet in den Sinn. Ich bin zwar nicht gläubig, aber in vielen religiösen Geschichten und Gebeten steckt eine Menge Weisheit, wenn man bereit ist, über einige Punkte hinwegzusehen und sich ernsthaft damit zu beschäftigen, stelle ich einmal mehr fest.
Akzeptanz scheint eine Lektion zu sein, die ich immer wieder lernen muss.
Mit jedem neu gewonnen Freiheitsgrad muss ich wieder lernen zu akzeptieren, dass ich nicht alles sehen, nicht alles erleben kann, denke ich. Mit jedem neuen Freiheitsgrad kommt auch der Zwang mich zu entscheiden, was ich damit anfangen möchte. Und ohne diese Freiheit wäre ich auch nicht glücklich.
Mit der Realisierung kommt Erlösung und Tatendrang fährt in mich. Einer Eingebung folgend kaufe ich ein Busticket. Gelassenheit breitet sich in mir aus. Nichts schafft mehr Ruhe als ein gefasster Entschluss.

Das nächste Auto schießt hinter mir vorbei und bringt meine dringend nötige Aufmerksamkeit zurück zur Straße, auf der ich mich befinde.
Es ist spätabends, die Existenz der Busstation ist höchst fraglich und der Weg dorthin basiert auf Hörensagen, ach was, Legenden. Zumindest glaube ich das inzwischen. Niemand den ich um Hilfe gefragt habe kennt den Weg, aber diese Schnellstraße gilt es zu überqueren – munkelt man. Und da das nicht genug ist, fährt mein Bus in weniger als zehn Minuten ab.
Einen Fußgängerübergang gibt es nicht.
Die Uhr tickt.
Der Bus wartet nicht.
„Was soll da schon schiefgehen?“, frage ich mich laut.
Augen auf und durch!

Knapp zehn Minuten später biege ich um die letzte Straße. Ein kleiner Parkplatz erscheint. Ungläubig gehe ich darauf zu.
Verfluchte 20 Millionen Menschen leben in dieser Stadt und mein offizieller Busbahnhof ist nicht mehr als ein kleiner Parkplatz einer Seitenstraße im Nirgendwo des Großstadtdschungels.
„Uff…“, entfährt es mir.
Schon kommt ein Reisebus hinter der Abbiegung zum Vorschein und rangiert auf den Parkplatz.
Gerade noch rechtzeitig, denke ich erleichtert.

Weitere Impressionen aus Istanbul

Ansicht der Süleymaniye-Moschee in Istanbul
heruntergekommenen Häuser im Stadtviertel Balat
Straßenzug im Bezirk Beyoğlu
Cisterna Basilica in Istanbul

Chronologie: 06.09.2022 – 11.09.2022
veröffentlicht am 19.10.2022