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Kapitel 4: Die Löwen Zarathustras

Blick vom Sumela Kloster aus in die regengraue Berglandschaft

„Nein, ich habe keine Angst mehr“, antwortet Roshan fast nebensächlich.
Gerade als er seine Antwort ausführen will, hebt Anoush ihren Arm und unterbricht ihn. Durchdringend sieht sie mich an.
„Kennst du die Reden Zarathustras von Nietzsche“, fragt sie schließlich.
„Nein“, gebe ich zu.
„Es ist ein Gleichnis, in dem es um die Verwandlungen des Menschen auf dem Weg zur Selbstbestimmung geht“, klärt Anoush mich auf. „Als erstes gibt es die Verwandlung des Geistes in ein Kamel. Es ist ein Leben geprägt von Folgsamkeit. Der theologische Absolutismus gibt uns ein ‚Du sollst‘ vor. Doch irgendwann bröckelt dieses Fundament. ‚Du sollst‘ verwandelt sich in ein ‚Ich will‘. Ein Aufgebehren, ein zuvor unmögliches, heiliges ‚Nein‘ gegen die Strukturen der Fremdbestimmung. Dafür bedarf es einen Löwen. Doch am Ende brauchen wir ein Kind. Ein aufbegehrendes ‚Ich will‘ konstruiert sich immer noch von dem her, was es verneint. Solange wir gegen etwas Nein sagen, existiert dieses etwas noch. Wir brauchen einen Neubeginn in ursprünglicher Unschuld, ein heiliges ‚Ja‘, ein Kind“, schließt Anoush ihren philosophischen Vortrag ruhig ab.
„Seit 40 Jahren sind wir ein Kamel“.
Ich merke, wie mir ein Regentropfen auf den Kopf fällt. Stören tut es nicht.
„Aber seit zehn Jahren braut sich etwas zusammen“, fährt Roshan fort. „Und jetzt wurde eine junge Frau, Mahsa Amini, und viele Demonstranten getötet. Der Iran wird jetzt zum Löwen“.

Unbeirrt schaut Roshan zur Uhr und bedeutet seinem Freund aufzustehen. Beide schultern die Rucksäcke.
„Ich würde gerne weiter mit euch reisen, aber meine Gedanken sind zu Hause bei meiner Familie, meinen Freunden, meinem Land. Wir sind ein tolles Land. Wir sind tolle Menschen. Aber niemand traut sich zu uns zu kommen. Schuld ist unsere Regierung“.
Ich spüre, wie sich eine eigenartige Leere in mir ausbreitet. Geboren mit dem Privileg niemals eine Waffe berührt zu haben, niemals für Freiheit gekämpft haben zu müssen, weiß ich nichts zu erwidern. Also bleibe ich stumm.
Regen tropft auf Roshans Gesicht und läuft über die Augenbrauen an den Wangen hinab. Dunkle Wolken schieben sich weiter, unaufhaltsam durch die mächtige Berglandschaft und bringen mehr Regen.
Wir geben uns erst die Hand, umarmen uns dann doch.
Roshan guckt mir entschlossen in die Augen.
„Auf deine Frage also, ob ich Angst habe an den Protesten teilzunehmen: Nein, ich habe keine Angst mehr. Ich will auch in Freiheit leben“.

Chronologie: 23.09.2022
veröffentlicht am 04.12.2022